Leistungsdifferenzierung – Weg ohne Theorie



Nehmen wir an, im Biologie-Unterricht geht es um Linné und seine Klassifikation der Pflanzen. Als Material für die Kinder der Stufe 1 ist eine Seite aus „Was ist Was“ vorgesehen.
Eine häufige Form des Unterrichts wäre: Lesen der Seite und Verständnissicherung gefolgt von einer fragend-entwickelnden Ausweitung der zentralen Informationen, Veranschaulichung mit Beispielen und abschließenden Übungen zur Klassifikation.

Was muss sich verändern, wenn Leistungsdifferenzierung das Ziel ist?

A    Zunächst  sehen wir auf die Seite des Unterrichtsgegenstandes.

Die zentralen Informationen des Textes sind:
Linné hat die Pflanzen danach eingeteilt, ob sie Staub- (männliche Blütenteile) oder Fruchtblätter (weibliche Blütenteile) haben und nach deren Zahl, Verteilung und Anordnung. Mit Hilfe der Staubgefäße bestimmte er die Klasse der Pflanzen. Mit Hilfe der Griffel, also der ebenfalls weiblichen Blütenteile, die Ordnung. Darunter gibt es Gattungen und Arten. Die Namen der Pflanzen beginnen mit dem Ordnungsnamen gefolgt dem Namen der Art.

Diese zentralen Informationen sind „umrissen/denotativ“: Sie stehen zunächst abgeschlossen für sich, wert- und kontextfrei,  wortwörtlich. Der wichtigste Schritt zur inneren Differenzierung ist die Öffnung des Umrissenen, seine Umgebung und Verortung im Netzwerk der Informationen. Allerdings sollte diese Öffnung nicht in beliebige Richtungen gehen, sondern bestimmte, für den Unterricht produktive Segmente erschließen. Um das zu erreichen werden Standard-Aspekte eingesetzt; sie arbeiten inhaltsunabhängig und sind daher für jede Information in jedem Fach geeignet.
Übersicht zu den Standard-Aspekten

Zur Anwendung der Standard-Aspekte

1. Standardaspekt – Die Basis des Wissens enthält das, was alle Differenzierungsgruppen in ihr Wissen aufnehmen und anwenden können sollen. Sie ist der gemeinsame Inhalt für die gesamte Stufe. In diesem Fall also die Kenntnis der Kriteriums: Es sind die Merkmale der Blüte, nach denen Linné eingeteilt hat. Für die Basis brauchen wir keinen erschließendes Kriterium, sondern halten uns an den wortwörtlichen (denotativen) Gehalt der Ausgangsinformation.
Didaktisch: Das Lernen der Kinder kann rezeptiv bleiben und verläuft dann auf einfachem Anspruchsniveau. Die Wissensbasis enthält die für die gesamte Gruppe curricular anzustrebenden Kompetenzen.

2. Standardaspekt – Verknüpfungen  greifen aus in das Netzwerk der Informationen, und zwar mit drei strukturell verschiedenen Beziehungen (logischen Relationen).
2.1 Die erste Beziehung von „Klassifikation der Pflanzen“ in das Netzwerk hinein sucht nach Über- und Unterordnungen. Die wissenschaftliche Klassifikation wird als Oberbegriff betrachtet, gefragt wird nach speziellen Klassifikationen (der der Pflanzen und weiteren). Hier antwortet im Prinzip jeder wissenschaftliche Gegenstand, denn Klassifikationen sind ein Grundprinzip der wissenschaftlichen Arbeit. Beispiele wären die Klassifikation der Skelette, der Kohlenwasserstoffe, der Wolken …
Didaktisch: Hier würden die Kinder parallel zu der Klassifikation der Pflanzen eine weitere Klassifikation recherchieren und damit das Klassifizieren selbst zum Gegenstand machen. Diese Arbeit dient der wissenschaftspropädeutischen Kompetenz. Dieser Aspekt erfordert Abstraktion und Genauigkeit und führt daher auf ein gehobenes Anspruchsniveau.
2.2 Die zweite Beziehung von „Klassifikation der Pflanzen“ in das Netzwerk hinein sucht nach dem Ganzen und seinen Teilen (Analyse und Synthese). Die Klassifikation der Pflanzen (das Ganze) umfasst als Teile ein Begriffssystem, Prüfungs- und Beweisverfahren, eine Historie, Forschungsgruppen, Publikationsbestände …
Didaktisch: Jeder „Teil“ der Analyse bietet Chancen für die Arbeit einer Gruppe. Das Anspruchsniveau ist in Abhängigkeit von dem jeweilen „Teil“ verschieden, so dass hier eine Quelle von Vielfalt besteht. Wichtig ist, die Analyse, das Zerlegen, mit in die Arbeit am „Teil“ hineinzunehmen und am Schluss die Synthese – vom Teil zurück zu seinem Ganzen – nicht zu vergessen. Sonst entsteht abgespaltenes Wissen, das das Ziel eines gemeinsamen Gegenstandes für die Stufe verfehlt.
2.3 Die dritte Beziehung von „Klassifikation der Pflanzen“ in das Netzwerk hinein folgt der Logik von Ursachen und  Auswirkungen. Ursache von Linnés Klassifikation der Pflanzen war (u.a. auch) die epochale Wende zur Aufklärung. Er lebte zu
Beginn der Aufklärung; die religiösen Erklärungen der Welt werden zurückgewiesen und durch eine Haltung der Beobachtung, Hypothesenentwicklung und -prüfung ersetzt. Auswirkungen von Linnés Klassifikation waren u.a.  Forschungsreisen, internationale Kommunikation zwischen Wissenschaftlern, Einrichtung von Lehrstühlen und staatliche Förderung von Forschung, damit auch ein Fortschritt der Wissenschaften und deren Nutzung für die Landwirtschaft.
Didaktisch: Auch hier bietet jede Auswirkung die Möglichkeit für die Arbeit einer Gruppe, deren Anspruchsniveau entsprechend variiert. Und auch hier ist es wichtig, dass die Ursache-Wirkungsbeziehung mit in die Arbeit genommen wird, und nicht zum Beispiel eine Forschungsreise aus der Beziehung „Folge der Klassifikation“ abgelöst wird. Die Einheit des Stufengegenstandes würde damit zerstört.

3. Standardaspekt – Die wissenschaftliche Handlungsweise von Linnés Klassifikation entspricht dem Begriff, es geht um das Klassifizieren und damit um eine fachliche und überfachliche Kompetenz. Sie umfasst die Bestimmung von Kriterien für Zuordnung zu oder Abgrenzung von einer Klasse sowie die Anwendung der Kriterien durch Einsetzen von Beispielen. Wie in 2.1 ausgeführt, können das vielfältige Beispiele sein, die immer durch die gleiche wissenschaftliche Handlungsweise „Unterordnung unter einen Oberbegriff“ gefunden werden.
Didaktisch: Eine Differenzierungsgruppe würde z.B. die Klassifizierung der Rosengewächse durcharbeiten und das System von Ober- und Unterbegriffen auf Rhododendren übertragen. – Transfer ist eine Denkleistung mit gehobenem Anspruchsniveau, dessen Anforderungen im logischen und systematischen Bereich liegen, also für viele Hochbegabte gut geeignet sind.

4. Standardaspekt – Die Wissenschaftsgeschichte bietet die Möglichkeit, die Entstehung einer Information, hier der Systematik der Pflanzen, über oft Jahrhunderte zu verfolgen oder bei einem bestimmten Wissenschaftler dessen Arbeit zu recherchieren. Bei Linné ist die wissenschaftliche Biografie gut dokumentiert, so dass der Weg von der Problemstellung hin zur Lösung recherchiert werden kann. Beziehungen zu den späteren Arbeiten von Darwin und schließlich Wegener können einbezogen werden.
Didaktisch: Vielen Kindern fällt es leicht, eine fachliche Fragestellung als Anliegen einer Person vorzustellen. Das Nachvollziehen des Findevorgangs in einer wissenschaftlichen Laufbahn verbindet diese Neigung sich zu identifizieren mit der Logik der Sache. Das Anspruchsniveau dieses Aspekts variiert, je nachdem was wissenschaftlich in Rede ist.

B   Dann sehen wir auf die Seite der Lernenden

1.  Das lebensweltliche Vorwissen  der Kinder kommt dem Unterrichtsgegenstand nicht entgegen. Ihre Einteilung unterscheidet Obst und Gemüse von Kartoffeln und Reis, auch Blumen und Gräser von Bäumen und Sträuchern, Nadel- von Laubbäumen. Die Vorstellung jedoch, dass eine Erdbeerpflanze und ein Apfelbaum gemeinsam zu den Rosengewächsen gehören wird für sie befremdlich sein und ihren Bedürfnissen nach Unterscheidung nicht entgegenkommen.
Die Veranschaulichung von Linnés Kriterien am Beispiel wäre daher eine lohnende Aufgabe für eine Arbeitsgruppe, insbesondere wenn ergänzt wird, dass gleiche Pflanzenfamilien auch (überwiegend) gleiche Ansprüche an ihre Umwelt haben.
Didaktisch: Diese Aufgabe liegt im Basisbereich und hat ein einfaches bis mittleren Anspruchsniveau.

2.  Der Operator „Klassifikation“ ist  noch nicht eingeübt. Genaues Beschreiben und Unterscheiden sind Vorstufen, die an diesem Unterrichtsgegenstand eingeübt werden können. Die Bestimmung von klassenbildenden Merkmalen kann in freien Versuchen erprobt und dann mit Bildung von Unterklassen ausgeführt werden. Die Beurteilung unter der Frage nach der Zweckmäßigkeit könnte eine kritische Diskussion auslösen.
Didaktisch: Diese methodische Übung hat ein mittleres bis hohes Anspruchsniveau.

3.  Persönliche Erfahrungen im beruflichen und sozialen Umfeld der Familien, eigene Interessenschwerpunkte oder Betroffenheiten in besonderen Lebenssituationen (Wohnlagen, Ernährung, ökologisches Engagement) können den subjektiven Zugang zum Unterrichtsgegenstand und das Anspruchsnive beeinflussen. Solche Gelegenheiten sollten im Sinne der Identitätsentwicklung bei der Binnendifferenzierung aufgenommen werden.

4.  Allgemeine oder Leistungsangst ist eine Bedingung des Lernens, die besondere Sorgfalt bei der Leistungsdifferenzierung erfordert. Erfolgreich sind Ansätze, die bei einfachem Anspruchsniveau beginnen, dieses aber systematisch bei begleitender Kontrolle so steigern, dass die Kinder sich anstrengen müssen, aber unbedingt auch zum Erfolg kommen.