Leistungsdifferenzierung – Begründung

Die Differenzierung nach Leistungsniveau ist eine Frage der Fairness.

Die Psychologie der Leistungsmotivation lenkt den Blick weg von Inhalten, Wissen und Interesse und richtet ihn statt dessen auf Emotionen der Lernenden, nämlich das Erleben von Selbstwirksamkeit. Die eigene Arbeit meldet zurück, dass man tüchtig ist. Diese Selbstreferenz ist es, die die Grundlage für Leistungsmotivation bildet, im guten wie im ungünstigen Fall. Über längere Zeit baut sie mit an der Identitätsentwicklung der Kinder: „Erfolg ist eine Einstellung“. Sie beeinflusst die Beziehung zum Lernen wie keine zweite Bedingung – Mut ins noch Unbekannte hinein zu denken oder das Gegenteil – Standhalten bei Schwierigkeiten oder Flucht vor Misslingen – Lust auf Lernen oder Vermeidung (ich hab kein Bock) …

Wenn wir das nachstehende Bild genau ansehen, können wir beobachten, wie verschieden die Beziehung zum gerade gebotenen Unterricht ist.

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  • Kind 1 hat eine Antwort/Anmerkung, es hat die Frage/den Input verstanden.
  • Kind 2 drückt Zweifel/Kritik aus; er scheint aber im Verstehensprozess zu sein.
  • Kinder 3 und 7 sind gedanklich außerhalb, 3 ist müde oder gelangweilt.
  • Kinder 4 und 5 sind aufmerksam, können aber nicht folgen.
  • Kind 6 ist im Verstehensprozess.
  • Kind 8 ist aufmerksam, aber emotional unbeteiligt.

Vier der im Bild interpretierbaren acht Kinder werden den Unterrichtsgegenstand nach der Stunde nicht erfasst haben (3-5, 7). Sollte sich  diese Erfahrung auch in der nächsten und sogar auch übernächsten Stunde wiederholen, sollte sie sich über Tage, ja Monate fortsetzen  –  dann erleben diese Kinder das als Vernichtung jeder Motivation und als Hindernis dafür, sich eigene Handlungsmacht zuzuschreiben. Wie werden sie das in den Pausen kompensieren? Wie in zukünftigem Unterricht? Wie werden sie sich in der Familie verhalten, wenn diese Erfahrung sich über längere Zeit fortsetzt?

Wenn wir die subjektive Lernsituation einzelner Kinder dieser Gruppe modellhaft nachvollziehen (und dem Interpretationsversuch – wenigstens für das folgende Gedankenexperiment – Geltung zuschreiben), dann könnten wir die Unterschiede mit einer Balkenwaage veranschaulichen.

Szenario 1  –  Kinder 1,2,6 sind bei der Arbeit. Sie haben den Unterrichtsgegenstand in ihr Denken übernommen und befinden sich im Verstehensprozess (Verknüpfung mit Wissen/Sinngebung) oder bereits in Verarbeitungsschritten. Für diese Kinder sind das Anspruchsniveau der Aufgabe in Balance mit ihrem Leistungsvermögen. Ihre Aktivität wird zu der von der Lehrkraft vorgesehenen Erkenntnis/Problemlösung führen; sie erleben einen Zusammenhang zwischen ihrem Bemühen und dem Resultat. Der Unterricht führt zu dem Selbstbericht: Wenn ich mich engagiere, kann ich mithalten/kommt etwas dabei raus/fühle ich mich gut.
Diese Balance ist das Ziel der inneren Differenzierung. Für diese drei von 8 Kindern ist sie in diesem Unterricht offenbar erreicht.

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Szenario 2  –  Kinder 3 bis 5 wirken überfordert, folgen aber noch dem Unterricht. Sie haben den Unterrichtsgegenstand noch nicht übernommen (finden noch keine Verknüpfungen mit vorhandem Wissen, haben die „Struktur der Sache“ nicht erfasst, könnnen noch keinen Sinn zuschreiben). Ihre Mimik signalisiert Beklommenheit und Resignation. Für diese Kinder ist die Aufgabe relativ zu ihren Erbringungsmöglichkeiten zu schwer. Sie machen die Erfahrung, dass ihre Anstrengung nicht zum Erfolg führt.

In ihrem inneren Selbstbericht nehmen sie wahr: Wenn ich mich engagiere, bin ich im Risiko zu versagen. Das Ungleichgewicht von Anspruch der Aufgabe und Möglichkeit der Erbringung führt zu einer negativen Selbstrückmeldung, die – über einen längeren Zeitraum ausgedehnt – zu einem negatven Selbstbild beitragen kann in dem Sinn: Anstrengung lohnt sich nicht. die Aufgaben werden mir zeigen, dass ich ihnen nicht gewachsen bin. Einen Schutz vor dieser destruktiven Selbstrückmeldung bietet ihnen die Leistungsverweigerung entweder in Form von Opposition oder als Resignation (erworbene Hilflosigkeit).

Ziel des Unterrichts in diesen Fällen ist nicht, die Kinder zum Aufholen des Stoffes anzuhalten, sondern ihnen Aufgaben anzubieten, die – auf diesem Niveau – anspruchsvoll, aber bei Anstrengung lösbar sind. Während der erste Weg vor allem bei Hochbegabten * auf erbitterten Widerstand treffen kann, setzt der zweite bei den Ursachen an, nämlich da, wo das negative Selbstbild entstanden ist. Wenn es gelingt, erneut eine Tendenz zur Erfolgszuversicht zu erreichen, wird das inhaltliche Aufholen kein Problem mehr sein.
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* Auch Hochbegabte können selbst bei einfachen Anspruchsniveaus versagen (Verarbeitungsprobleme, Leistungs- oder Sozialangst, Arroganz aufgrund von zusammengetragenen Wissensmassen …)

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Szenario 3a –  Kinder 7,8  sind emotional unbeteiligt. Kind 8 folgt noch dem Unterricht, Kind 7 träumt sich aus dem Fenster. Entweder haben sie die Erfahrungen der Kinder 3 bis 5 gemacht und daraus bereits den Schluss gezogen: Wenn ich mich nicht engagiere, dann kann ich auch keinen Misserfolg haben. Ich warte, bis die Stunde zu Ende ist.

Oder umgekehrt:

Szenario 3b –  Kinder 7,8 Ihr Potential  ermöglicht ihnen so schnelles Begreifen, dass Anstrengung überflüssig ist. Sie durchschauen die Aufgabe sofort, diese ist irrelevant, weil ohne Herausforderung. Engagement entfällt. Wo aber keine Auseinandersetzung stattgefunden hat, gibt es auch keinen Sieger. Für diese Kinder dehnt sich der Unterricht als Reihung von Belanglosem; der emotionale Wechsel zwischen Herausforderung, Lösungsversuchen, Hartnäckigkeit und schließlichem Erfolg bleibt aus. Die Zeit dehnt sich ohne emotionale Bewegung. Der Sebstbericht dieser Kinder könnte lauten: Ich kann es, aber es geht mich nichts an; ich komme nicht weiter.  – Das „wording“ der Hochbegabten hierfür ist Langeweile.

Dass Kinder mit hohem Potential keine Probleme mit den im Unterricht anfallenden Aufgaben haben, ist für Lehrkräfte kein Anlass zur Zufriedenheit. Es geht nicht darum, dass sie „gut“ sind; es geht darum, dass der Unterricht ihnen keine Chance zur Anstrengung – und weitergedacht – zur realistischen Selbsteinschätzung, und damit zur Indentitätsentwicklung bietet.
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